Worte weben: Schreib Dich hin!

Eine Schreibwerkstatt in Ludwigsburg

Mit freundlicher Genehmigung der Ludwigsburger Kreiszeitung:
Nachruf auf Ursula Jetter (4.9.2024)

Literatur zwischen den Welten

Ursula Jetter schrieb für ihr Leben gerne, eckte manchmal an und pflegte den trockenen Humor. Nun ist die Möglinger Schriftstellerin, Exempla-Herausgeberin und Musiktherapeutin im Alter von 84 Jahren gestorben.

Von Johannes Koch
Schrieb bevorzugt über die Gratwanderungen und Absurditäten des Alltags: Die Möglinger Autorin Ursula Jetter ist mit 84 Jahren gestorben. Foto: Holm Wolschendorf

Möglingen/Ludwigsburg. Im Rückblick erscheint es fast wie eine Vorahnung: Anfang 2023 sprach Ursula Jetter zum ersten Mal über ihren Entschluss, nach über 40 Jahren die Herausgabe der Literaturzeitschrift Exempla einzustellen. Die Möglinger Autorin hatte zuvor monatelang mit sich gerungen, schließlich war die Zeitschrift ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen – am Ende wirtschaftlich wie organisatorisch aber kaum noch zu stemmen. „Ich bin einfach in einer neuen Phase meines Lebens angekommen“, sagte sie mit einer munteren Prise der ihr eigenen Selbstironie. Klimadebatte, Pandemie und Ukraine-Konflikt hatten ihr zusätzlich aufs Gemüt geschlagen. Sie wollte reinen Tisch machen. Das vielseitige Lebenswerk der Schriftstellerin und Musiktherapeutin, die 2018 – zu ihrer großen Freude – das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt, bleibt gleichwohl bestehen. Im Alter von 84 Jahren ist sie nun gestorben.
LKZ 240903 Foto Holm Wolschendorf

Das Innere ihres Hauses glich immer einer Festung aus losem und gebundenem Papier, in den Regalen, aber auch sonst überall im Raum, zwischen Schreibtisch, Konzertflügel und viel Kunst an den Wänden stapelten sich die Bücher und Manuskripte. Als Lebensaufgabe bezeichnete Jetter stets das Arbeiten mit der Literatur, das Schreiben, die Herausgabe ihrer Literaturzeitschrift, ihr Wirken in der Schriftstellervereinigung Pen und die Schreibwerkstatt bei der Katholischen Erwachsenenbildung in Ludwigsburg. „Ich darf eigentlich nicht klagen, die letzten Jahre waren erstaunlich gut“, befand Ursula Jetter kurz vor ihrem 80. Geburtstag.

Zwischen Melancholie und Humor
Nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt elf Bücher mit Geschichten, Erzählungen und Essays – darunter „Grenzgänge, Niemandsland“, „Die Prozession aus Afrika“, „Minotaurus“ und „Die Frau mit den Koffern“ – veröffentlichte, folgte Ende 2018 ihr letztes Buch „Über-leben“, in dem sie sich mit den Aufzeichnungen ihres Vaters aus dem sibirischen Gefangenenlager, in das er während des Zweiten Weltkriegs gebracht worden war, befasste. Sie liebte besonders die kurzen literarischen Formen, kleine Geschichten und Gedichte, die zwischen Melancholie, Humor und dem ganz normalen Wahnsinn pendeln. Das Ludwigsburger Stadtarchiv hat bereits signalisiert, dass es an Teilen des Nachlasses sehr interessiert sei. Nach einer entsprechenden Sichtung im Laufe der kommenden Monate wird darüber gemeinsam mit der Familie entschieden. Es dürfte einiges zu entdecken geben.
Jetter, 1940 in Bruchsal als Ursula Dilger geboren, wird früh Mutter und „emanzipierte Hausfrau“, wie sie selbst einmal sagte. Bis ihr Mann schwer erkrankt. Mit knapp 30 Jahren, als klar wird, dass sie die Familie wird ernähren müssen, beginnt sie einen Studienmarathon, Musikpädagogik und Psychologie, wird Lehrerin und Musiktherapeutin. Dabei bildet sie die ersten Studenten der Fachhochschule für Musiktherapie in Heidelberg aus und betreibt in diesem Bereich Pionierarbeit. Ende der 70er zieht die Familie von Bad Säckingen nach Möglingen. Jahrelang pflegt sie ihren Mann, zieht die Kinder – zwei Töchter und einen Sohn – groß, arbeitet, den ganzen Tag. Abends schreibt sie, am liebsten über Gratwanderungen, Konflikte und Absurditäten. „Ich habe Innenreisen gemacht, weil richtige Reisen nie möglich waren“, erzählte sie einmal.

Ein Ausrufezeichen zum Schluss
1987 wird Ursula Jetter Mitherausgeberin der in Tübingen von Studenten gegründeten Literaturzeitschrift Exempla und rettet damit ihr Fortbestehen, im Jahr 2000 wird sie alleinige Herausgeberin, mit Ludwigsburg als Erscheinungsort. Die Auflage liegt zeitweise bei bis zu 1000 Stück, sie erscheint zweimal jährlich, später seltener. Die 44. Ausgabe aus dem Jahr 2020 – „Satirischer Zugriff – gereimt und ungereimt“, Auflage 400 Stück – war nun die letzte. Für den 76-seitigen Band habe sie viel Zuspruch erhalten, erzählte Jetter. Für sie war klar: „Es war ein Ausrufezeichen zum Schluss.“ Sie selbst war mit zwei Texten („Die Blockade“, „Die Karrierefrage“) darin vertreten. Die Menschen waren ihr wichtig, im Leben wie in der Kunst. „Das ist mein Schwerpunkt – Ernst, Lust und volles Leben“, sagte Jetter einmal. Häufig basierten ihre Arbeiten vage auf real Erlebtem als Musiktherapeutin mit eigenem Therapiehaus in Winnenden, wo sie mit an Schizophrenie und Alkoholismus Erkrankten arbeitete. Sie kannte die menschlichen Abgründe, die auf sie auch eine gewisse Faszination ausübten. Ihre literarischen Werke pendelten stets zwischen den Welten.
Die Autorin mochte bisweilen als streitbarer Geist gelten – etwa bei der Arbeit mit den Schülern ihrer Schreibwerkstatt –, gleichzeitig verfügte sie aber über einen geerdeten, herzlich-trockenen Sinn für Humor. Sie wusste, was sie über die Jahre alles geleistet hatte, beruflich wie privat, nahm sich grundsätzlich zwar durchaus wichtig, aber nie zu ernst. „Es gab viele Härten und viele Siege“, sagte sie einmal. „Ich bedauere nichts.“ Was ihr noch fehlte in ihrem literarischen Werk, war ein großer Roman, erklärte Ursula Jetter vor ein paar Jahren. „Das ist eine Lücke, aber ich trauere nicht.“ Diese Leerstelle wird nun bleiben.